Benutzerspezifische Werkzeuge

Sie sind hier: Startseite / Bibliothek / Bestände / Fokus: Graphzines / Ausstellung 'Graphzines 1975 - 2013: französische Underground-Künstlerpublikationen'

Ausstellung "Graphzines 1975 - 2013: französische Underground-Künstlerpublikationen"

Dauer der Vitrinenausstellung im Zentralinstitut: 11. Oktober 2013 bis 22. November 2013, Montag bis Freitag, 10 bis 20 Uhr
Dauer der Online-Ausstellung: unbegrenzt


‚Chaque magazine contient des centaines d’images elles sont mises ensemble, confrontées, décalquées, reprises. Cela tient bien plus que dix tableaux qui font les expositions dont tout le monde parle. C’est une formation d’endurance qu’il faut avoir. Peut-être que l’on nous reprochera de manquer de stratégie bourgeoise. Mais un jour notre travail se verra et il aura l’efficacité d’avoir dit l’époque.’

(aus einem mündlichen Statement von Bruno Richard vom 10.4.1982, abgedruckt in: Graphic production [Umschlagtitel: Graphic Production 73 – 83 : 1000 dessins sauvages] / Bruno Richard, concept, choix des images ; Gérard Guégan, prises d'empreintes ; Alin Avila, interview, notes ; avec la participation de Jean-Pierre Richard .... - Paris : Autrement, 1983; S. 110)

Installationsansicht Eingang 'Graphzines'

Ein neues Sammelgebiet: "Graphzines"

Die Bibliothek des Zentralinstituts pflegt seit Beginn der siebziger Jahre offiziell einen Schwerpunkt ‚Kunst Frankreichs‘. Dieser wird nun verstärkt und ausgebaut durch eine auch in den Kontext des aktuellen DFG-geförderten Projekts "Studienzentrum zur Moderne – Bibliothek Herzog Franz von Bayern" gehörende, außergewöhnliche große Erwerbung, die Anfang 2013 bekanntgegeben werden konnte: Mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung und des Fördervereins CONIVNCTA FLORESCIT ist es gelungen, eine über 450 Titel umfassende, den Erscheinungszeitraum von 1977 bis 2005 abdeckende Sammlung sogenannter "Graphzines" zu erwerben: graphische Künstlerbücher und -zeitschriften der eng dem alternativen Comic strip verbundenen französischen Underground-Szene. Es handelt sich überwiegend um in kleinen oder kleinsten Auflagen, oft als Serigraphien oder in der Tradition der Fanzines im Fotokopierverfahren ‚do-it-yourself‘ produzierte, von den Künstler-Produzenten und bestimmten spezialisierten Buchhandlungen und Galerien vertriebene Hefte und Bücher ("autoédition", "petite édition", "microédition"). Die in Frankreich eingeführte, international verwendungsfähige Bezeichnung "graphzine", die pragmatischerweise auch auf graphische Bücher ohne Zeitschriftencharakter angewendet wird, hebt auf die Bilddominanz, den äußerst kraftvollen Einsatz von Linie und Farbe ab, wobei  Textelemente, so vorhanden, selbst graphisch konzipiert oder völlig mit dem Bildentwurf integriert sind. Narrativik ist im Gegensatz zum üblichen Comic strip keineswegs zwingend. In der Bibliothèque nationale de France werden diese Materialien dem Département des Estampes et de la Photographie zugeordnet.

Künstler, Ikonographie, Technik

Einige der Künstler gehörten ursprünglich zu der in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre entscheidenden Gruppe ‚Bazooka‘, einige waren  auch Beiträger von Art Spiegelman’s in den achtziger Jahren publiziertem Magazin RAW, das seinerseits nur ein prominenter Repräsentant einer internationalen „Post-Punk“-Bewegung in Europa und USA war. Die kunsthistorische Einordung hätte, wie Amélie Fontaine in ihrer Arbeit über die "Microédition" betont, in vielen Fällen unter "Figuration libre" zu erfolgen.

Praktisch alle wichtigen Künstler und Zeitschriften dieser französischen Szene sind in der nur mit wenigen Beispielen über Frankreich hinausgehenden Sammlung vertreten, wie z. B. Pascal Doury und Bruno Richard, Stéphane Blanquet, Pakito Bolino und Caroline Sury, Philippe Huger (UG), Thierry Guitard, Blexbolex, die Zeitschriften "Le Dernier Cri" (komplett) und "Elles sont de sortie" (ESDS; fast komplett bis 2001), "OBCN" oder auch "Stronx", um nur ganz wenige herauszugreifen. Häufig verwenden die Künstler Pseudonyme, wie man es auch von Künstlern der Street Art kennt. Kollektive Produktionen mit einer Vielzahl von Einzelbeiträgen verschiedener Künstler sind von Anfang an typisch, wobei die Zuordnung der Graphiken zu einzelnen Künstlern eher dem Insiderwissen der Leserschaft überlassen wird. Gerade an den Zeitschriftenheften sind oft eine Vielzahl von Künstlern mit ihren Einzelbeiträgen beteiligt. Viele Graphzines sind völlig anonym. Die Ikonographie ist tendenziell provokativ und tabubrecherisch-gesellschaftskritisch: Delirierend-ausufernde Traumszenerien, extreme Gewalt, sexueller Missbrauch, Sadomasochismus, Blasphemie sind charakteristisch.  Die Darstellungsweisen von Künstlern wie Pakito Bolino, Stéphane Blanquet, Bruno Richard oder, Caroline Sury treiben die in Karikatur, Collage, Comic und Graffiti angelegten Möglichkeiten deformativer Expressivität und Explizität in oft verspielter und humoristischer Weise auf die Spitze. Rekurrent sind Bezugnahmen auf Gestalten des Mainstream-Comic. Die häufig verwendete Serigraphietechnik in Kombination mit einer Vielfalt unkonventioneller Trägermaterialien (etwa Packpapier oder Transparentfolie, Zeitungen und Drucksachen in Sekundärverwendung) verschafft den Darstellungen eine ganz eigene, nur im Kontakt mit dem Objekt erlebbare Wirkung.

Installationsansicht 'Graphzines' 3

Andere Sammlungen/Sammler

Die von einem kenntnisreichen Sammler zusammengetragene Kollektion lässt sich für den von ihr abgedeckten Zeitraum, also speziell die achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit derjenigen der Bibliothèque nationale de France (BnF) vergleichen. Es gibt offensichtlich außerhalb Frankreichs nirgendwo eine vergleichbare Kollektion in öffentlich zugänglichem Besitz. Die Privatsammlung von Arnulf Meifert in der Nähe von Regensburg umfasst jedoch auch einen wichtigen Graphzines-Bestand. Seit 2013 wurden von der Bibliothek des Zentralinstituts bereits weitere Graphzines, sowohl älteren als auch jüngeren Datums, erworben. Somit reicht der ZI-Bestand inzwischen von der ersten Bazooka-Kollektivproduktion aus dem Jahr 1975 bis zu ganz aktuellen Publikationen der wichtigsten Produzenten. Alle Graphzines sind im Online-Katalog www.kubikat.org auch mit dem Suchwörtern "graphzine" oder "graphzines" auffindbar. Die Katalogisierung der erworbenen Sammlung erfolgte im Rahmen des DFG-geförderten Projektes "Studienzentrum zur Moderne - Bibliothek Herzog Franz von Bayern". Für die laufende Weiterführung der Sammlung bilden eine ganze Reihe von Szeneevents, Produzentenwebsites, Galerien und Buchhandlungen offenbar ein verlässliches Gerüst. So gibt es in Lille im September den Salon FLTM ("Fais-le toi-même"), in Paris im Oktober das Festival "Fanzines!", ferner über das Jahr verteilt weitere einschlägige Events in Paris und in der Provinz. Neben der BnF ist die Fanzinothèque de Poitiers (www.fanzino.org) eine herausragende Sammeleinrichtung mit vielfältigen Vermittlungsaktivitäten, die auch Ausstellungen realisiert, wie unlängst die Ausstellung über Fredox aus Anlass des 20jährigen Bestehens von Le Dernier Cri. Der französische Sammler Pascal Tassel in Amiens betreibt die sehr informative Website www.graphzines.net, gleichzeitig ein Online-Katalog seiner eigenen überragenden Sammlung. Die "galerie ambulante" Arts Factory (www.artsfactory.net) hat für die Vermittlung eine Schlüsselfunktion. Ein gewisser Albert Foolmoon in Lille, auch Organisator des o. g. Salons, steht hinter der sich als Community-Plattform verstehenden Website www.diyzines.com, die über das Gesamtgeschehen, nicht nur in Frankreich, informiert, und deren Name die historische Verankerung in der DIY-Bewegung, die auch schon die Punkkultur prägte, zum Ausdruck bringt. Neben all diesen Informationsquellen besteht die legendäre Pariser Buchhandlung "Un/Le Regard Moderne" in der rue Gît-le-Cœur weiter. Lange Jahre Zentrum der Szene, ist sie sozusagen Keimzelle des Ganzen und längst selbst ein schützenswertes Objekt.

Kontext und aktuelle Entwicklungen

Das Zentralinstitut für Kunstgeschichte schätzt sich glücklich, im Rahmen seines Projektes "Studienzentrum zur Moderne" nunmehr dieses hierzulande außerhalb der Comic-Szene – es gibt etliche relevante Beiträge im Comic-Magazin "Strapazin" - wohl weitgehend unbekannte Material  vermitteln zu dürfen, das in einer speziell französischen Szene, der freilich die Produktionen in anderen Ländern, nicht nur USA, sondern etwa auch Deutschland und Japan an die Seite zu stellen sind, am Schnittpunkt von Comic strip, Alternativ- und Satirepresse, Künstlerbuch und Art brut produziert wurde und wird. Graphzines im Sinne von graphisch dominierten Werken der "micro-édition" sind natürlich Teil eines breiteren Spektrums an verwandten Produktionen, darunter großformatige Poster bzw. Plakate und über den regulären Buchhandel vertriebene "graphic novels", Comics, sogar Kinderbücher, nicht zu vergessen Plattencover. So nimmt es nicht Wunder, dass die Sammlung des ZI nicht nur Graphzines im engen Sinne handwerklich selbstgemachter serigraphierter Hefte mit Kleinstauflage und subversivem Inhalt umfasst, sondern auch Verlagsproduktionen oder eher gefällige Graphikeditionen. Zudem zeigt die Sammlung, dass die Graphzines oft durchaus den narrativen Konventionen des Comic strip entsprechen. Auch die Bedeutung der Textelemente ist entgegen einer allzu engen Definition des Materials evident. Sehr charakteristisch ist der immer wieder geradezu anrührende gestalterische Aufwand, den die Künstler investiert haben, wohlgemerkt für Objekte ohne merkantile Intention für kleine Insiderkreise. Manche Graphzines haben unverkennbar Multiple-Charakter.

Installationsansicht 'Graphzines' 2

Das breite gestalterische Spektrum reflektiert letztlich die Interessensvielfalt der beteiligten Künstler, von denen einige nach den Jugendjahren der Revolte übrigens mittlerweile zum graphischen Establishment gehören und internationale Bekanntheit auch in der großen Kunstszene erlangt haben, so der in Deutschland mehrfach für schöne Buchgestaltung ausgezeichnete Bernard Granger alias Blexbolex oder Christian Chapiron alias Kiki Picasso, der schon 1985 die erste Armbanduhr der "Art Swatch"-Kollektion entwarf und zwanzig Jahres später eine Albert-Einstein-Briefmarke der französischen Post. Etliche der Protagonisten der 80er und 90er Jahre sind weiterhin als Künstler, aber auch als Produzenten in der "microédition" aktiv.

Der gesellschaftskritische, anarchische Impetus ist mittlerweile weniger deutlich, auch die Vielfalt der handwerklichen Gestaltung scheint in Anbetracht der aktuellen elektronischen Gestaltungs- und Diffusionsmöglichkeiten zurückgegangen zu sein. Immerhin: Das "Graphzine" als Bestandteil eines alternativen Kunstsystems lebt, wenn auch wenige sich im Laufe der Jahrzehnte so treu geblieben sind wie Bruno Richard, der weiterhin "Elles sont de sortie" produziert.

Warum Graphzines sammeln?

Sammelnde Einrichtungen wie die Bibliothèque nationale de France oder nunmehr auch die ZI-Bibliothek sorgen dafür, dass diese Materialien überhaupt bewahrt werden: Die sogenannte "microédition" ist Teil einer Welt außerhalb der großen Kunstszene. Ein guter Teil der produzierten Auflagen dürfte analog zu ausgesprochenen Ephemera im Laufe der Zeit schlicht untergehen. Hier geht es nicht von vornherein um Partizipation an einer Patrimonialisierungs- und Wertschöpfungsdynamik. In Anbetracht dieser marginalen Positionierung ist es bemerkenswert, dass "Le Guerrier", eine brutalistische Zeichnung des auch in der ZI-Sammlung vertretenen Graphzine-Künstlers Captain Cavern es kürzlich auf die Umschlagseite der ehrwürdigen "Nouvelles de l’Estampe" (N° 240, automne 2012) gebracht hat. In den "Nouvelles de l’Estampe" wird inzwischen auch detailliert über die Entwicklung des BnF-Bestandes berichtet. Gleichzeitig konstatieren wir, wie sehr alternative graphische Produktionen in der ‚großen‘ Kunstwelt in Mode gekommen sind:  Gerade Comic strips bilden in selektiver Sekundärverwertung den illustrativen Stoff von Coffee-table-Büchern und großen Ausstellungen, Street Art ist inzwischen ein Touristenphänomen, und Szenezeitschriften sind tatsächlich ‚le dernier cri‘.

Die Institutionalisierung, die mit der Sammlung solcher Materialien durch öffentliche Einrichtungen einhergeht, bedeutet, wie man sich leicht denken kann, eine gewisse Bedrohung ihrer Intentionen. Nicht zu leugnen ist die Gefahr, dass die Materialien Teil des kunsthistorischen Diskurses werden statt überhaupt direkt zur Kenntnis genommen zu werden. Letzteres freilich geht nur über die individuelle Lektüre der originalen Graphzines und die Wahrnehmung ihrer materiellen Besonderheiten. Die Bibliothek des Zentralinstituts eröffnet nun diese Möglichkeit, die in Anbetracht unserer üblichen reproduktionsbestimmten und auf deutenden Diskurs fixierten Kunstrezeptionsbedingungen ein großes Privileg bedeutet.

In seiner Vitrinenausstellung "Graphzines 1975 – 2013 : französische Underground-Künstlerpublikationen" präsentiert das ZI nur eine erste Auswahl aus der Graphzines-Sammlung. Sie konzentriert sich auf nur ganz wenige ausgewählte Künstler und Zeitschriften. Von der Vielfalt der Sammlung kann sie nur eine Ahnung vermitteln.

 

Die Vitrinenausstellung wurde mit einem Vortrag von Lise Fauchereau (Bibliothèque nationale de France) eröffnet, gestützt auf Graphzines des ZI.

 

Dank: Lise Fauchereau (Bibliothèque nationale de France), Didier Lecointre/Dominique Drouet

 

Rüdiger Hoyer

 

Installationsansicht 'Graphzines' 4

 

 

Sie sind hier: Startseite / Bibliothek / Bestände / Fokus: Graphzines / Ausstellung 'Graphzines 1975 - 2013: französische Underground-Künstlerpublikationen'