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Annika Thielen, M.A.

Preisträgerin Sonder-Forschungspreis Angewandte Kunst 2023



Gruppe/n: Preistragende

Vita

  • Seit Oktober 2023 | Administratorin der Sammlungsdatenbank am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover
  • September 2021 bis September 2023 | Museologin im von der ZEIT-Stiftung geförderten Projekt „Digitale Erschließung der Sammlung Europäisches Kunsthandwerk und Skulptur“ am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
  • 2019-2021 | Masterstudium Kunstwissenschaft an der Technischen Universität Berlin / Thema der Abschlussarbeit: Voyeuse. Kunst- und kulturgeschichtliche Studie zu einem ungewöhnlichen Stuhltyp
  • 2019-2021 | Studentische Mitarbeiterin im DFG-geförderten Projekt „Das Fenster zur Natur und Kunst – Eine historisch-kritische Aufarbeitung der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer“ bei den Staatlichen Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz
  • 2015-2019 | Bachelorstudium Museologie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig / Thema der Abschlussarbeit: The Neish Collection of British Pewter and the Collection of the Stirling Smith Art Gallery and Museum – a Short History of Pewter, Salt and Pepper

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Annika Thielen über ihre mit dem Sonder-Forschungspreis Angewandte Kunst 2023 ausgezeichnete Masterarbeit „Voyeuse. Kunst- und kulturgeschichtliche Studie zu einem ungewöhnlichen Stuhltyp“:

Foto von zwei Stühlen (Damen- und Herrenvoyeuse, Paris 1780)Die Voyeuse ist ein Stuhltyp, der gemäß der Wortherkunft voir – französisch: sehen – zum Zuschauen (beim Spielen) eingesetzt wurde. Ungewöhnlich sind sowohl sein Aussehen als auch die Benutzung:  Das Möbel zeichnet sich dadurch aus, dass rittlings darauf gesessen wurde und die Rückenlehne richtigerweise als Bauchlehne bezeichnet werden könnte. Auf dieser Lehne befindet sich ein über die Breite des Stuhls hinausgehendes Polster, das vom Sitzenden zum Ablegen der Arme genutzt wurde.
Eine umfassende Analyse dieses Stuhltyps fehlte in der Forschung bisher. Um diese Lücke zu schließen, wird in der Masterarbeit der Stuhl aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen waren nötig? Wo wurde die Voyeuse, wie und von wem genutzt? Wie unterschied sich die Herstellung von anderen Möbeln? Welche Vorlagenwerke gab es und welche Rolle spielten sie in der Entwicklung des neuen Stuhltyps? Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen wurden unter anderem zeitgenössische Text- und Bildquellen sowie die Auswertungen von Pierre Verlet (1908-1987) zu dem 18-bändigen Journal du Garde-Meuble konsultiert.
Die Voyeuse steht in einem engen Zusammenhang zur Spielkultur am französischen Hof, beginnend mit der Regentschaft von Ludwig XIV. (1638-1715). Etablieren konnte sich der Stuhl jedoch erst unter Ludwig XV. (1710-1774), der Spielabende auch fernab der Öffentlichkeit in seinen petits appartements abhielt. Da Aufträge bei bekannten französischen menuisiers wie Jean-Baptiste Claude Sené (1747-1803) und Georges Jacob (1739-1814) lediglich jeweils wenige Voyeusen beinhalteten, konnten diese nicht für ein großes Publikum gedacht gewesen sein. Gestützt wird diese These von dem Fakt, dass sich der Stuhl trotz einiger zeitgenössischer Vorlagen außerhalb des Hofes nicht etablieren konnte und zudem in der Malerei und Grafik des 18. Jahrhunderts nicht präsent war. Seine Blütezeit erlebte der Stuhltyp schließlich während der Regentschaft von Ludwig XVI. (1754-1793), bevor das Zeitalter der Voyeuse mit der Französischen Revolution abrupt endete. In dieser Hochphase von etwa 20 Jahren zeigte sich die Voyeuse am wandelbarsten. Es lassen sich Stilmerkmale der damaligen Möbelmode ebenso nachverfolgen wie eine geschlechterspezifische Spezialisierung des Möbels. Während die Männer rittlingssitzend auf der Herrenvoyeuse Platz nahmen, knieten die Frauen auf der niedrigeren Damenvoyeuse ähnlich wie auf einem Gebetsstuhl.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte der Stuhltyp mit dem Rauchstuhl bzw. der fumeuse ein kleines Revival. Auch wenn die Voyeuse sicher Vorbild für den Rauchstuhl war und auf ihm ebenfalls rittlings gesessen wurde, sind Parallelen im Gebrauchskontext nicht vorhanden. Die Voyeuse selbst existierte also nicht mal 100 Jahre, dennoch gewährt sie durch ihre enge Bindung an das Ancien Régime einen genauen Einblick in damalige höfische Konventionen.

[Abbildung: Adrien Pierre Dupain, Damen- und Herrenvoyeuse, Paris 1780. Schloss Gottorf (als Dauerleihgabe in Schloss Ahrensburg), Inv. Nr. 1926/80 und 1926/82. Foto: Annika Thielen]