Juliane Richter // RASTER: BETON
Projektbeschreibung
Projekt im D21 Kunstraum Leipzig und an verschieden Orten in Leipzig-Grünau mit Ausstellung, Artist Residencies, Symposium, Künstlergesprächen, Filmprogramm, Stadtspaziergängen (Mai bis Juli 2016).
Das Projekt RASTER: BETON bietet eine Plattform für zeitgenössische Positionen von Künstler_innen und Referent_innen aus Deutschland und Frankreich, die sich mit dem Städtebau der Nachkriegsmoderne und der Architektur von Großwohnsiedlungen und ihren sozialen und politischen Zuschreibungen auseinandersetzen. Mehrwöchige Artist Residencies laden zur Entwicklung und Umsetzung ortsspezifischer Arbeiten im öffentlichen Raum ein. In einer Ausstellung und einem Symposium stellen die eingeladenen Künstler_innen ihre Arbeiten vor. Darüber hinaus thematisieren wissenschaftliche sowie philosophische Vorträge eingeladener Referenten die historische wie zeitgenössische Vergleichbarkeit der städtebaulichen Entwicklungen in beiden Ländern, ihre binationalen Beziehungen und ihren Wissens- und Ideentransfer. Auch eine Neubewertung der „Platte“ aus zeitgenössischer Perspektive soll vorgenommen werden.
Insgesamt gestaltet sich das Projekt als ein mehrwöchiges, multilokales Festival.
Hintergrund: Frankreich ist der Geburtsort der „Platte“, die DDR als die große Rationalistin.
Das Experimentieren mit dem „System Platte“ (Christine Hannemann) können wir in Europa bis an die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Noch vor 1910, dem Jahr, in dem Grosvenor Atterbury in New York die ersten vorgefertigten Großplatten in Stahlbeton verwendete, wurde in Frankreich mit seriell gefertigten Bauelementen aus Holz, Metall und Stampfbeton und kleinformatigen Betonelementen experimentiert. Später entwickelte Le Corbusier die „Unités d’Habitation“, die gemeinhin als Vorbilder moderner Wohnscheiben in Großtafelbauweise gelten und begründete eine neue Typologie in Architektur und Wohnphilosophie. Die Grundidee stellte Le Corbusier mit dem „Pavillon de L’Esprit Nouveau“ bereits 1925 in Paris vor – ein idealer Gebäudeentwurf, der massenhaft und ortsungebunden wiederholt werden konnte. Mit dem 1956-58 realisierten Bau in Berlin trug er die Idee physisch nach Deutschland. Auch hier wurde bereits in den 1020er Jahren mit vorgefertigten Elementen gebaut, beispielsweise in Ernst Mays Siedlung „Neues Frankfurt“ (ab 1925).
Nach dem 2. Weltkrieg entstanden in einigen Vororten der großen französischen Städte – maßgeblich beeinflusst durch die bereits in den 1920er-Jahren begründeten Konzepte des Bauhauses um Walter Gropius sowie das städtebauliche Leitbild von Le Corbusier und der CIAM (räumliche Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr) – im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus reine Wohnquartiere in Form von Hochhaustürmen bzw. -riegeln (Grands Ensembles), die mehrere hundert, teils tausend identische Wohneinheiten umfassten. In den 50er und 60er Jahren dienten die Grand Ensembles Aulnay-sous-Bois, Clichy-sous-Bois, Marseille-La Viste, Toulouse-Le Mirail als „heroische“ Beispiele einer neuen Annäherung an Wohnen, Architektur und Stadt. Der Architektur kam eine Schlüsselrolle bei der Modernisierung des Landes zu.
In der DDR wurde das Bauwesen insbesondere nach 1966 (Cruschtschows Rede zum „schnellen, besseren, billigeren Bauen“) auf die Bauweise und das System der „Platte“ reduziert. Heute sind sowohl die Großwohnsiedlungen in der ehemaligen DDR als auch jene in den Banlieus in der öffentlichen Wahrnehmung zum Symbol einer verfehlten Stadtplanung geraten, die als Ursache für zum Teil prekäre soziale Lebensbedingungen ihrer Bewohner gesehen werden. Architektur wurde hier vom Verheißer eines modernen Morgens zum Stigma einer Gesellschaft umgedeutet. Insbesondere an der „Platte“ lässt sich dieser Bewertungswandel ablesen. In letzter Zeit findet allerdings insbesondere unter jüngeren Menschen eine Neubewertung dieser Siedlungen und ihrer Konstruktionsweise statt: Gründe sind zum einen funktionale (Wohnungsmangel in den Städten), aber auch gesellschaftlich-kulturelle (unbefangener Blick der Generation der Nachgeborenen).
Im Rahmen des Aufenthaltes am ZI sollen die theoretischen Grundlagen untersucht werden: der Austausch von französischen und deutschen Architekt_innen in den 60er bis 80er Jahren, möglicher Ideen- und Wissenstransfer und binationaler Vergleich der Großwohnsiedlungen (Ideen, Utopien, Entstehungsgeschichte, Konstruktionsweisen, Image heute, Neubewertung). Auch sollen weitere Künstler_innen und Wissenschaftler_innen für das Symposium recherchiert werden.