Stefanie Gerke // Die moderne Ruine. Neo-pittoreske und neo-erhabene Darstellungsformen in der zeitgenössischen Kunst
Rund ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung wirft der Zustand der Nachkriegsarchitektur die Frage nach ihrem Denkmalwert auf. Angesichts maroder Bausubstanz wird in Feuilletonartikeln über Erhalt und Abriss der Bauten, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren entstanden sind, debattiert. Auch die architekturhistorische Forschung bemüht sich mittlerweile um eine systematische Aufarbeitung der Bestände. Zugleich reflektieren Künstlerinnen und Künstler die Architektur dieser Zeit in ihren Arbeiten. In welcher Weise sie sich mit diesem Gegenstand und den damit verbundenen Fragen beschäftigen, ist das Thema der Dissertation.
Der Fokus liegt dabei auf Fotografie-, Film- und Videoarbeiten internationaler Künstlerinnen und Künstler seit 1990, die gezielt ikonographische Traditionen des Topos Ruine erweitern, aktualisieren und unter den Bedingungen ihres Mediums neu orientieren. Entscheidend hierbei ist die Tatsache, dass die Ruinenikonographie bislang durch die Ästhetik der Romantik sowie Georg Simmels geprägt wurde, der den Reiz verfallender Bauten in der Rückeroberung durch die Natur sah. Die modernen Ruinen hingegen bestehen aus industriellen, schwer vergänglichen Baustoffen wie Beton und Stahl und sind häufig die Folge menschlicher statt natürlicher Zerstörung.
Die Analyse führt daher zu einer Aktualisierung der für den Ruinenbegriff prägenden ästhetischen Kategorien des Pittoresken und des Erhabenen für das 21. Jahrhundert. Die Neufassung dieser Kategorien trägt den Darstellungsparametern der neuen Medien ebenso Rechnung wie den veränderten Bedingungen der Architektur. Einige der analysierten Arbeiten nutzen Nachkriegsarchitektur als zeitgemäßes Symbol der Vergänglichkeit und widmen sich in pittoresker Tradition vor allem Wahrnehmungsfragen, um die Konstruktionsmechanismen ihrer eigenen Medien zu reflektieren, wie etwa die 16 mm-Filme Tacita Deans, die Polaroidserien Cyprien Gaillards und die Fotomontagen Beate Gütschows, die anhand des Begriffs „neo-pittoresk“ untersucht werden. Andere Künstler gewinnen den radikalen Bildern abgerissener oder zum Abbruch verurteilter, gescheiterter Nachkriegsarchitektur und den damit einhergehenden sozialen Folgen eine ästhetische Komponente ab, die in der Tradition des Erhabenen Lust und Schrecken miteinander verbindet, wie etwa Julian Rosefeldt, Clemens von Wedemeyer und Tobias Zielony. Die Analyse ihrer Werke konstituiert somit den Begriff des „Neo-Erhabenen“. Anhand dieser künstlerischen Positionen verortet sich das Forschungsvorhaben innerhalb der Diskussion um das Erbe der Romantik, sowie innerhalb der aktuellen Diskussion um die Rezeption des Erbes der Nachkriegsmoderne. Vor allem aber wird damit systematisch ein Feld abgesteckt, in dem sich zeitgenössische Kunst momentan bewegt.