Franziska Stöhr // Wir brauchen wieder Utopien. Soziale Zukunftsvisionen in der bildenden Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts
Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem Beginn der Postmoderne schienen Utopien und die großen Erzählungen, wie Jean-François Lyotard es formulierte, am Ende. In seinem Buch Utopische Profile von 2001 benennt der Politikwissenschaftler Richard Saage, einer der wichtigsten Utopieforscher in Deutschland, Utopien allerdings als essentiell für die Innovationsfähigkeit der westlichen Welt, da sie seit der Antike als Entwurf von Gegenpositionen den gesellschaftlichen Prozessen ihre innere Dynamik verliehen. Den Blick auf vorangegangene Utopien und ihre kritische Rezeption sieht er als unverzichtbares Element für eine Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Ein Interview des Magazins für politische Kultur Cicero mit dem französischen Wirtschaftswissenschaftler und Kulturphilosophen Jacques Attali im Jahr 2005 treibt diese Einschätzung noch weiter und titelt: „Wir brauchen wieder Utopien“.
In aktuellen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst treten gesellschaftliche Themen mit besonderer Präsenz auf. Auf der documenta 14. Von Athen lernen konnte man diese Tendenz 2017 beispielsweise deutlich beobachten. Verbunden mit heutigen Krisen der Welt waren dabei allerdings vor allem Werke zu sehen, die dokumentarischen Charakter hatten. Produktive, perspektivenerweiternde Zukunftsentwürfe, kombiniert mit explizit künstlerisch-gestalterischen Fragestellungen, schienen so gut wie ausgeblendet.
Ausgehend von dieser Beobachtung möchte das Forschungsprojekt sich künstlerischen Positionen des 20. und 21. Jahrhunderts widmen, die Diskussionen um gesellschaftliche Entwicklungen auf visionäre Weise, verbunden mit grundsätzlichen gestalterischen Fragen, vorantrieben und -treiben. Dabei soll erstmals eine Entwicklungsgeschichte der sozialen Utopien in der bildenden Kunst formuliert werden, die sich nicht nur im kunsthistorischen, sondern auch im Verhältnis zum politischen, soziologischen und philosophischen Diskurs verortet. Folgende Fragen stehen zu Beginn des Vorhabens: Wann und wie manifestieren sich Umbrüche künstlerischer Diskurse von Dystopien
hin zu Utopien? Hat der Beginn des digitalen Technikzeitalters künstlerische Gesellschaftsvisionen zunächst in diesen Bereich verschoben? Welche innovativen Gesellschaftsentwürfe und -visionen gibt es aktuell in der bildenden Kunst?